Von Tobias Bleek
Pierre Boulez: Abschrift (Particell) von Anton Weberns Konzert op. 24, um 1945 (Paul Sacher Stiftung, Basel)
„Meine Freiheit besteht darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe‟, erklärte Igor Strawinsky in einer 1938 an der Harvard University gehaltenen Vorlesungsreihe zur Musikalischen Poetik:
Abb. 1: Igor Strawinsky am Klavier (Paul Sacher Stiftung Basel)
Strawinskys Überlegungen zu den Voraussetzungen schöpferischen Handelns, die 1945 auf dem französischen Buchmarkt erschienen, lesen sich wie ein geheimes Programm zu Boulez’ Douze Notations pour piano. So bildet die Idee, kompositorische Probleme in einem klar umgrenzten Aktionsfeld zu lösen, den Ausgangspunkt der Ende desselben Jahres entstandenen Klaviersammlung. Auf der Ebene des Klangapparats beschränkte sich der 20-jährige Komponist auf das vertraute Instrument des Klaviers, für das er fast alle Werke seiner kurzen Studienzeit geschrieben hat. Bei der Absteckung des kompositorischen Spielfelds ließ er sich von der Zahl 12 leiten: Eine Zwölftonreihe bildet die Grundlage für 12 kurze Klavierstücke von jeweils 12 Takten Länge.
Abb. 2: Pierre Boulez 1959 in Mauterndorf (© Universal Edition/Alfred Schlee)
Welche produktiven Kräfte aus dieser radikalen Selbstbegrenzung erwachsen, führt die vollendete Komposition eindrucksvoll vor Augen. In der kreativen Auseinandersetzung mit den selbst gesetzten Grenzen gelingt es Boulez, eine Musik von enormer gestischer Kraft und Ausdrucksvielfalt zu entwickeln. Auffällig dabei ist der ebenso freie wie originelle Umgang mit den Prinzipien der Zwölftonkomposition und den bei Messiaen [+] gelernten rhythmischen Verfahren. Die konsequente Eingrenzung des Aktionsfeldes ermöglichte dem jungen Komponisten dabei, die angeeigneten Techniken in einem überschaubaren Rahmen zu erproben und auf ihrer Grundlage eine eigene Tonsprache zu entwickeln.
Abb. 3: Zwölftonreihe der Notations (Grundgestalt)
Ein eindrückliches Beispiel für die Arbeit mit einem extrem reduzierten musikalischen Material bildet Notation 7 (vgl. Abb. 3 und 4 sowie die interaktive Partitur von Notation 7 in der Rubrik Die Musik entdecken auf dieser Website). Das gesamte Stück basiert auf drei verschiedenen Bausteinen, die Boulez aus der segmentierten Grundreihe gewonnen hat:
(A) eine zwischen der Quinte h-fis' und der Quarte c'-f' alternierende, ostinate Begleitschicht in der linken Hand (Reihentöne 11/12 und 7/8);
(B) ein akzentuierter, jambischer Klageruf auf den Tönen cis''-g' (Reihentöne 9/10), der während des gesamten Stückes genau siebenmal (!) in der rechten Hand erklingt;
(C) eine Folge ausdrucksvoller melodischer Gesten in der rechten Hand, die mit dem Klageruf alternieren und die die noch fehlenden Reihentöne 1–6 exponieren.
Die harmonische bzw. melodische Gestalt der ostinaten Begleitschicht und des akzentuierten Klagerufes bleibt während des gesamten Stückes konstant. Die melodischen Gesten hingegen, die in Takt 2 mit der zweitönigen Figur as''-b' beginnen, verändern sich. Sie gewinnen zunehmend an Länge, dehnen sich im Tonraum aus und werden zum Ende des Stückes hin immer ornamentaler. Zwei fixierte Bausteine (A und B) stehen also einem variablen gegenüber (C).
Abb. 4: Pierre Boulez: Notation 7, Takt 1–4
Doch auch bei den beiden fixierten Bausteinen gibt es ein Moment der Überraschung. Der Invarianz auf der Ebene der Tonhöhe und Gestalt steht nämlich eine Variabilität auf der Ebene der Tondauer gegenüber. So erklingen die Quinten und Quarten der langsamen Ostinato-Schicht in immer anderer, unvorhersehbarer Länge (zwischen 8 und 31 Sechzehntel). Und auch der zweite Ton des Klagerufs verändert bei jedem Erklingen seine Dauer. Das Ziel dieses kompositorischen Spiels mit der irregulären Verkürzung oder Verlängerung der Klänge ist die rhythmische Belebung des Tonsatzes und die Durchkreuzung von Hörerwartungen. Während die Fixierung der harmonischen bzw. melodischen Gestalt unveränderte Wiederholung suggeriert, wird diese Erwartung durch die variable Dauer konterkariert.
Abb. 5: Pierre Boulez: Abschrift von Anton Weberns Variationen für Klavier op. 27, 2. Satz sowie 3. Satz, Takt 1-21 (Paul Sacher Stiftung Basel)
Auf der Ebene des Tonmaterials arbeitet Boulez in Notation 7 mit einer weiteren, selbst gesetzten Begrenzung. So erklingen die Töne der dem Stück zugrundeliegenden Zwölftonreihe immer in derselben Oktavlage (z.B. der Ton cis immer als cis''). Die einzige Abweichung von diesem Prinzip erfolgt in Takt 8. Hier erscheint der Ton as, der normalerweise als as'' erklingt, als melodischer Hochton as'''. Angeregt wurde diese Registerfixierung des Tonsatzes mit großer Wahrscheinlichkeit durch die Musik Anton Weberns. Denn der 1. Satz der Symphonie op. 21, den Boulez Anfang Dezember 1945 erstmals im Konzert hörte und möglicherweise schon zuvor mit Leibowitz [+] studiert hatte, benutzt genau dieses Verfahren der Tonhöhenorganisation (vgl. hierzu den Essay Ein musikalisches Gesellenstück in der Rubrik „Das Werk und seine Kontexte‟).
Weberns zweistimmiger Spiegelkanon aus dem 2. Satz der Klaviervariationen op. 27 ist ein weiterer möglicher Referenzpunkt, da er wie der Eröffnungssatz der Symphonie op. 21 mit einer (allerdings nicht so konsequent durchgeführten) Lagenfixierung der Töne arbeitet. Im Gegensatz zur Symphonie op. 21 lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob Boulez das Werk zum Entstehungszeitpunkt der Notations schon kannte.
René Leibowitz (Paul Sacher Foundation Basel)
Der Komponist René Leibowitz (1913–1972) war der wohl wichtigste Fürsprecher und Vermittler der Musik des Schönberg-Kreises im Frankreich der Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der gebürtige Jude, der während der deutschen Besatzung in Südfrankreich und Paris untertauchte, setzte sich nicht nur als Dirigent und als Lehrer, sondern auch als Musikschriftsteller unermüdlich für die Musik von Arnold Schönberg und seiner Schüler Alban Berg und Anton Webern ein. So verfasste er noch während der Besatzungszeit die erste französischsprachige Monographie über die Wiener Schule, Schoenberg et son école (Paris 1947). Wenig später folgten seine Schriften Qu’est-ce que la musique de douze sons? (Liège 1948) sowie Introduction à la musique de douze sons (Paris 1949).
Abb. 6: Pierre Boulez: Entwurf zu Notation 8 (Paul Sacher Stiftung Basel). Links oben hat Boulez das Wort „Afrique‟ notiert.
Yvette Grimaud (*1920), eine Messiaen-Schülerin der ersten Stunde, zählt zu Boulez’ wichtigsten Studienbekanntschaften. Nach eigenem Bekunden verdankte er der um fünf Jahre älteren Pianistin und Musikethnologin unter anderem die Einladung zu Leibowitz’ Schönberg-Konzert im Februar 1945 sowie den Kontakt zur Phonothek des Pariser Musée Guimet. Darüber hinaus war Grimaud eine der ersten Boulez-Interpretinnen. Am 12. Februar 1946 brachte sie in einem Konzert die Douze Notations sowie die unveröffentlicht gebliebenen Trois Psalmodies pour piano zur Uraufführung. Auch die in der ersten Jahreshälfte 1946 geschriebene Erste Klaviersonate sowie die im folgenden Jahr komponierte Zweite Klaviersonate wurden von Grimaud uraufgeführt.
Pierre Boulez über die Verbindungen von Notation 8 zu afrikanischer Musik.
Ein weiterer wichtiger Anlaufpunkt war die ethnologische Sammlung des Musée de l’Homme, wo die bekannten französischen Musikethnologen André Schaeffner und Gilbert Rouget wirkten. Dort betrieb der junge Boulez Studien afrikanischer Musik – eine Beschäftigung, die sich unter anderem in Notation 8 niedergeschlagen hat (vgl. Abb. 6 sowie das Video).