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Boulez Arbeitsplatz (© Alfred Schlee, Universal Edition)Boulez Arbeitsplatz(© Alfred Schlee, Universal Edition)Zur Geschichte der Notations in Boulez’ Schaffen

In der Musikgeschichte ist es eine gängige Praxis, dass Komponisten im Laufe ihres Schaffens an bereits geschriebene Werke anknüpfen, diese überarbeiten, für eine andere instrumentale Besetzung transkribieren oder in neue  Existenzformen überführen. Dass sich ein Komponist wie im Fall von Pierre Boulez über mehr als sechs Jahrzehnte immer wieder mit einem Jugendwerk beschäftigt, ist jedoch ein Unikum. Zur Entstehungszeit der Douze Notations pour piano war diese langanhaltende schöpferische Auseinandersetzung dabei keineswegs absehbar. Denn dem jungen Boulez erschien der in der Klaviersammlung erreichte Stand vor dem Hintergrund seiner rasanten kompositorischen Entwicklung schon bald als veraltet. Deutlich wird dies beim Blick auf die Publikationsgeschichte. Während Boulez die zu Beginn des Jahres 1946 geschriebene Sonatine für Flöte und Klavier sowie die Erste und Zweite Klaviersonate in den frühen 1950er Jahren veröffentlichte, ließ er die Douze Notations bezeichnenderweise in der Schublade. Erst 1985 erschien die Klaviersammlung bei der Wiener Universal Edition im Druck. Zu diesem Zeitpunkt hatte die verzweigte Bearbeitungsgeschichte des Werkes längst begonnen.

 

 

Pierre Boulez: Notation 1 und Notation 2 (T. 1–6), unveröffentlichte Orchesterbearbeitung, 1945/46 (Paul Sacher Stiftung Basel)Pierre Boulez: Notation 1 und Notation 2 (T. 1–6), unveröffentlichte Orchesterbearbeitung, 1945/46 (Paul Sacher Stiftung Basel)Zur Geschichte der Notations in Boulez’ Schaffen

Die erste Bearbeitung der Douze Notations entstand unmittelbar nach Vollendung der Klaviersammlung. In den Beständen der Paul Sacher Stiftung befindet sich die im Februar 1946 fertiggestellte Niederschrift einer ersten Orchesterfassung. Bei den elf Orchesterstücken – Notation 6 blieb aufgrund ihrer pianistischen Satzart ausgespart – handelt es sich um direkte Übertragungen der Klavierstücke. Die Vorlagen bleiben in ihrer Substanz unangetastet und werden nach dem Modell traditioneller Orchesterbearbeitungen von Klavierwerken lediglich instrumentiert. Im Orchestersatz manifestieren sich dabei unterschiedliche Einflussquellen. So lässt die gleichsam analytische Instrumentation des ersten Stückes an Anton Webern denken. Der Einbezug von Ondes MartenotOndes MartenotDie Ondes Martenot („Martenot-Wellen“) sind ein elektronisches Musikinstrument, das 1928 von dem französischen Musiker und Erfinder Maurice Martenot (1898–1980) patentiert wurde. Das Instrument erfreute sich in den 1930er und 1940er Jahren in Paris großer Beliebtheit und wurde nicht nur von Komponisten wie Olivier Messiaen, Arthur Honegger oder Darius Milhaud verwendet, sondern auch in zahlreichen Film- und Theatermusiken eingesetzt. Pierre Boulez komponierte im Sommer 1945 ein unveröffentlicht gebliebenes Quartett für Ondes Martenot und verwendete das Instrument dann wieder in seiner ebenfalls nicht publizierten ersten Orchesterbearbeitung der Notations. Außerdem wirkte er zur Sicherung seines Lebensunterhalts für einige Zeit als „Ondiste“ im Folies Bergère, dem beliebten Pariser Kabarett und Varietétheater. Schließlich verdankte er dem Instrument auch seine Bekanntschaft mit Jean-Louis-Barrault (1910–1994). Im Herbst 1946 engagierte der französische Pantomime, Regisseur und Theaterleiter Boulez als Ondes-Martenot-Spieler für eine Aufführung von Arthur Honeggers Bühnenmusik zu Hamlet. Wenig später wurde Boulez zum Direktor der Bühnenmusik der Compagnie Renaud-Barrault am Théâtre Marigny ernannt, eine Funktion, die er bis 1956 innehatte. Ondes Martenot (© public domain)Jean-Louis Barrault mit seiner Frau Madeleine Renaud im Jahr 1952 (Fotografie von Carl van Vechten, aus der Van Vechten Collection der Library of Congress) hingegen verweist auf den französischen Kulturraum und spiegelt die damaligen klanglichen Vorlieben des jungen Komponisten. Im Rückblick hat sich Boulez von dieser frühsten Bearbeitung der Notations allerdings distanziert. Deshalb wurde die Studienarbeit im Gegensatz zur originalen Klavierfassung bis heute weder aufgeführt noch gedruckt.

 

Eine Auseinandersetzung mit dem Jugendwerk unter veränderten Vorzeichen erfolgte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. 1957 verwendete Boulez Material aus den Notations in einer Hörspielmusik. Ein Jahr später knüpfte er in seinem Mallarmé-Zyklus Pli selon pli an die Klaviersammlung an. So basiert eine Passage aus dem zweiten Teil des Werkes „Première Improvisation sur Mallarmé“ auf Notations 5 und 6.

 

 

Pierre Boulez und Patrice Chéreau 2007 (Universal Edition/Eric Marinitsch)Pierre Boulez und Patrice Chéreau 2007(Universal Edition/Eric Marinitsch)Guggenheim Museum, New YorkDaniel Barenboim über die Entstehung und Uraufführung der Notations pour orchestre.Daniel Barenboim über die Entstehung und Uraufführung der Notations pour orchestre.Das gesamte Interview mit Daniel Barenboim zu Pierre Boulez, das von Wolfgang Schaufler geführt wurde, finden Sie hier.Pierre Boulez dirigiert das Orchester der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY (Georg Anderhub, LUCERNE FESTIVAL)„…Jugendstücke, gesehen durch den Spiegel von heute“ – Die Notations pour orchestre

Die bedeutendste Beschäftigung mit dem Material und eigentliche Metamorphose der in der Klaviersammlung skizzenhaft exponierten Ideen begann in den späten 1970er Jahren. Im Hintergrund standen dabei Boulez’ akustische Forschungen am Pariser IRCAMIRCAM in Paris (© public domain)IRCAMDas IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique) ist ein von Pierre Boulez konzipiertes Forschungsinstitut für Musik und Akustik in Paris. Die auf Wunsch des französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou gegründete Einrichtung wurde nach mehrjähriger Entwicklungsarbeit 1977 in unmittelbarer Nähe des Centre Pompidou eröffnet und bis 1991 von Boulez persönlich geleitet. In der ursprünglichen Struktur und dem Forschungsprogramm dieser neuartigen Institution, in der Komponisten, Wissenschaftler, Ingenieure und Programmierer in transdisziplinären Projekten zusammenarbeiten, spiegeln sich die schöpferischen Interessen und Erfahrungen ihres Gründers. So lag unter der Direktion von Boulez ein besonderer Forschungsschwerpunkt des Instituts auf dem Bereich der Live-Elektronik, d. h. derjenigen elektroakustischen Musik, die unter Beteiligung von Interpreten in Echtzeit während einer Aufführung entsteht. Außerdem beschäftigte sich Boulez intensiv mit den akustischen Eigenschaften von Instrumentalklängen – eine Forschung, die in den Umgang des Komponisten mit dem großbesetzten Notations-Orchester eingeflossen ist. sowie seine intensive Beschäftigung mit der Musik Richard Wagners. 1976 dirigierte er bei den Bayreuther Festspielen die bahnbrechende  Neuproduktion des Ring des Nibelungen in der Inszenierung von Patrice Chéreau. Auch in den folgenden drei Jahren  verbrachte Boulez einen Teil des Sommers in Bayreuth, um die Wiederaufnahmen des sogenannten „Jahrhundertrings“ zu leiten. In diesem Zusammenhang entstand 1978 die Idee, das immer noch in der Schublade liegende Jugendwerk hervorzuholen und an den spiel- und probenfreien Tagen mit einer zweiten Orchesterbearbeitung zu beginnen:

 

„Zuerst dachte in an eine reine Orchestrierung, habe aber dann gemerkt, dass das nicht genug ist. Denn für einen großen Orchesterapparat waren diese Stücke viel zu kurz. Es gibt ja mehr oder weniger ein Verhältnis zwischen der Länge eines Stücks und der Größe des Apparats. Also musste ich diese Ideen bearbeiten, als rohes Material. Ich habe gedacht: ‚Gut. Ich habe diese Ideen, die sehr kurz sind. Ich muss sie ausdehnen und sehen, wie sie sich weiterentwickeln.‘ Das war eine sehr interessante Arbeit. Denn einerseits gab es da eine große Distanz zu den Ideen, die weit zurücklagen, gleichzeitig aber waren diese Ideen für mich voller Möglichkeiten, die ich 1945 überhaupt nicht gesehen habe. Es waren Jugendstücke, gesehen durch den Spiegel von heute.“ [1]

 

Bei dem unabgeschlossen gebliebenen Zyklus der Notations pour orchestre handelt es sich also um eine Neu-Interpretation der frühen Klavierstücke. Die dort skizzenhaft exponierten Ideen fungieren gleichsam als Keime, die sich im Lichte der Möglichkeiten des Klangmediums Orchester entfalten. Der Prozess der Wucherung, Ausdehnung und Vervielfachung  des Grundmaterials ist dabei so weitreichend, dass sich die Verbindungen zwischen den Klavier- und Orchesterstücken oft erst bei einem genaueren Studium erschließen. So hat Boulez beispielsweise aus dem etwa einminütigen Klavierstück Notation 7 ein Orchesterstück von rund neun Minuten Spieldauer entwickelt.

 

Im Juni 1980 erfolgte die Uraufführung der Orchesterversion von Notations I–IV durch das Orchestre de Paris unter Leitung von Daniel Barenboim. 17 Jahre später entwickelte Boulez eine Orchesterfassung von Notation 7, die am 14. Januar 1999 von Barenboim mit dem Chicago Symphony Orchestra uraufgeführt und anschließend revidiert wurde. Und noch im Sommer 2012 arbeitete der mittlerweile 87-jährige Komponist nach eigener Auskunft an der Orchesterversion von Notation 8.

 

Das Notations-Projekt ist also das zeitlich ausgedehnteste „work in progress“ von Pierre Boulez. Zum Zeitpunkt seines Todes im Januar 2016 unabgeschlossen spiegelt es die Faszination des Komponisten für die Metamorphose und Weiterentwicklung seiner eigenen Werke:

 

„[...] Proust hat nur einen Roman geschrieben. Auch Joyce hat nur über Dublin geschrieben; erst Dubliners, dann Ulysses, schließlich Finnegans Wake. Es ist praktisch immer das gleiche Buch, aber mit enormen Differenzierungen. Ich bin in dieser Richtung ähnlich, mein Werk besteht aus Spiralen. Ich benutze häufig den Vergleich mit der Spirale, weil sie immer endlos ist: eine Form, die zugleich fertig und unfertig ist, endlich und unendlich. Das fasziniert mich. Das für mich interessanteste Museum ist daher das Guggenheim Museum in New York. Man sieht eine Ausstellung dort ganz anders als in einem gewöhnlichen Museum. Weil man in der gleichen Zeit die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit sieht. Man sieht, was man gesehen hat, und man sieht, was man sehen wird. Ich finde, das ist eine sehr interessantev Perspektive.“ [2]

 

 

Lektüreempfehlungen

Emmanouil Vlitakis, Funktion und Farbe. Klang und Instrumentation in ausgewählten Kompositionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Lachenmann – Boulez – Ligeti – Grisey, Hofheim: Wolke Verlag, 2008, S. 73–130.

 

 

Anmerkungen

[1] Zit. nach Barbara Zuber, „Komponieren – Analysieren – Dirigieren. Ein Gespräch mit Pierre Boulez“, in: Musik-Konzepte 89/90: Pierre Boulez, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1995, S. 29–46, S. 32f.

[2] „Mein Werk besteht aus Spiralen. Pierre Boulez im Gespräch mit Jürgen Otten“, in: Österreichische Musikzeitschrift, Jg. 59 (2004), Nr. 5, S. 13–17, S. 13f.

Musikalische Metamorphosen

von Tobias Bleek

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