Im September 1943 zog der 18-jährige Pierre Boulez aus Lyon nach Paris, um sich nach einem einjährigen Mathematikstudium fortan ganz der Musik zu widmen. Noch im selben Monat begann er sein offizielles Studium am Pariser Konservatorium mit der Vorbereitungsklasse für Harmonielehre von Georges Dandelot. Außerdem setzte er im Privatstudium seine pianistische Ausbildung fort und nahm ab Frühjahr 1944 Kontrapunktunterricht bei . Doch die eigentlich entscheidende Begegnung für Boulez’ kompositorische Laufbahn fand am Ende seines ersten Pariser Jahres statt.
Pierre Boulez über Messiaens Harmonielehreklasse und seine privaten AnalysekursePierre Boulez und Olivier Messiaen, November 1988 (Foto: Ralph Fassey)Pierre Boulez über Messiaens GehörbildungsunterrichtStudien bei Messiaen
Am 28. Juni 1944 sprach der 19-Jährige bei vor.[1] Messiaen, der sich damals bereits als Organist und Komponist einen Namen gemacht hatte, unterrichtete seit seiner Rückkehr aus deutscher Kriegsgefangenschaft im Jahr 1941 eine Harmonielehreklasse am Conservatoire national supérieur. Er erklärte sich bereit, den um 17 Jahre jüngeren Musiker als Schüler anzunehmen. Nach einigen privaten Vorbereitungsstunden trat Boulez im Oktober 1944 in Messiaens Klasse ein, um diese bereits im Frühsommer des folgenden Jahres mit einem ersten Preis abzuschließen. Im Zentrum des mehrmals wöchentlich stattfindenden Unterrichts standen die Schulung des Gehörs und der musikalischen Vorstellungskraft, die Ausbildung des harmonischen Bewusstseins und die analytische Beschäftigung mit Musik. Das Spektrum der behandelten Werke reichte dabei von Monteverdi bis zu Debussy, Ravel und Strawinsky. Darüber hinaus machte der passionierte Lehrer seine Studenten mit außereuropäischer Musik bekannt. So erinnert sich Boulez, in Messiaens Klasse im Frühjahr 1945 erstmals Schallplattenaufnahmen mit Musik aus Bali gehört zu haben.
Messiaen muss Boulez’ außerordentliche Begabung rasch erkannt haben, denn bereits wenige Wochen nach der Aufnahme in die Harmonielehreklasse lud er den neuen Schüler ein, zusätzlich seine privaten Klassen für Komposition und musikalische Analyse zu besuchen. Die freundschaftlichen Zusammenkünfte fanden ein- bis zweimal im Monat im Hause des Musikers und Ägyptologen Guy Bernard-Delapierre statt und dienten dazu, besonders talentierte Studenten „tiefer in das Herz der Musik einzuführen“.[2] In diesem, von den Zwängen des institutionellen Lehrbetriebs befreiten Rahmen, erhielt Boulez zwischen Dezember 1944 und Frühjahr 1946 wichtige Impulse für sein eigenes Komponieren. So machte Messiaen die handverlesene Gruppe an „einem herrlichen Flügel“ [3] mit seinen Analysen von Orchesterwerken Strawinskys (Le Sacre du printemps, Petruschka), Debussys (La Mer, Jeux, Nocturnes) und Ravels (Ma mère l’oye) bekannt. Außerdem besprach er Kompositionen, die damals weder im Konzertleben zu hören, noch auf den akademischen Lehrplänen zu finden waren: Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta sowie dessen Streichquartette und Violinsonaten, Schönbergs Pierrot lunaire und Bergs Lyrische Suite. Schließlich präsentierte er seinen Privatschülern auch eine seiner wichtigsten eigenen Kompositionen: den gerade abgeschlossenen Klavierzyklus Vingt regards sur l’Enfant-Jésus (1944).
René Leibowitz (Paul Sacher Stiftung Basel)Privatkurse bei Leibowitz
Zu einem zweiten folgenreichen Ereignis für Boulez’ kompositorische Entwicklung kam es im Februar 1945. Im Hause des Pariser Mäzenen Claude Halphen hörte der knapp 20-Jährige erstmals Schönbergs Bläserquintett op. 26 sowie dessen Klavierstücke op. 23. Organisator des Privatkonzerts und Dirigent des Bläserquintetts war . Der Komponist, Musikschriftsteller und Pädagoge hatte sich in Paris bereits während der deutschen Okkupation im Verborgenen für die von den Nazis verbotene Musik der eingesetzt. Nach der Befreiung der Stadt Ende August 1944 wurde er zum wichtigsten Fürsprecher und Vermittler der Zwölftonmusik und der Werke Arnold Schönbergs in Frankreich.
Die Begegnung mit Schönbergs führte Boulez – wie er später einmal formulierte – schlagartig vor Augen, dass „jenseits von Messiaens Klasse ein weiteres musikalisches Universum“ existierte.[4] Gemeinsam mit einigen Mitstudenten – darunter und – bat er Leibowitz, sie als Schüler anzunehmen. Vermutlich noch im Frühjahr 1945 begannen die privaten Analysekurse. An Samstagvormittagen trafen sich die Messiaen-Schüler bei Leibowitz, um von ihm in die Grundlagen der Zwölftontechnik eingeführt zu werden und unter seiner Anleitung dodekaphone Kompositionen minutiös zu studieren. Die Liste der Werke, die bis Sommer 1946 behandelt wurden, umfasste dabei Kompositionen von Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg. In welcher Reihenfolge diese besprochen wurden und wann Leibowitz genau mit der Analyse der Musik Anton Weberns begann, ist ungewiss. Fest steht jedoch, dass Boulez spätestens Ende 1945 zum ersten Mal ein Werk jenes Komponisten der Wiener Schule im Konzert hörte, der ihn am nachhaltigsten beeinflussen sollte. Am 5. Dezember dirigierte Leibowitz bei einem Konzert im Pariser Konservatorium Weberns Symphonie op. 21.[5] Die Begegnung mit Weberns dodekaphonem Meisterwerk war für den jungen Komponisten, der damals bereits an seinen Douze Notations arbeitete, ein kreativer Schock mit weitreichenden kompositorischen Folgen.
Pierre Boulez über Olivier Messiaen und René LeibowitzMessiaen versus Leibowitz
Messiaen und Leibowitz eröffneten Boulez im Lauf seiner knappen Lehrzeit also unterschiedliche musikalische Welten und Denkweisen. Beide waren dabei nicht nur wichtige Vermittler, sondern wirkten darüber hinaus auch als Impulsgeber für die musikalische Sprachfindung des jungen Komponisten. Retrospektiv hat Boulez ihren Einfluss auf seine kompositorische Entwicklung und sein musikalisches Denken allerdings sehr unterschiedlich bewertet. Seinem großen Lehrer Messiaen blieb er trotz zwischenzeitlicher Spannungen und Zerwürfnisse zeitlebens verbunden und unterstrich immer wieder dessen prägende Rolle. Von der Leitfigur Leibowitz nabelte sich der gegen jegliche Dogmen rebellierende junge Komponist hingegen bereits im Sommer 1946 ab und beurteilte dessen Leistungen fortan äußerst kritisch. .
Pierre Boulez über die Entstehungsumstände und das kompositorische Programm der Douze NotationsZwölftonreihe der Douze NotationsEine Hommage an die Zahl 12
Boulez’ Douze Notations für Klavier entstanden in der letzten Phase seiner privaten Studienzeit bei Leibowitz und Messiaen. Nachdem der 20-Jährige die im Frühjahr 1945 entdeckte Zwölftontechnik in einigen unveröffentlicht gebliebenen Klavierstücken sowie einem Quartett für zunächst unsystematisch erprobt hatte, legte er sie nun erstmals einem ganzen Werk zugrunde. Das kompositorische Programm der Notations lässt sich dabei als musikalische Hommage an die Zahl 12 verstehen. So besteht die Klaviersammlung aus zwölf kurzen Stücken, die jeweils zwölf Takte umfassen. Jede dieser Miniaturen hat einen ausgeprägten eigenen Charakter, wobei nicht nur zwischen den einzelnen Notations, sondern manchmal auch innerhalb ein und desselben Stücks scharfe Kontraste bestehen. Das verbindende Element ist eine Zwölftonreihe, die in den verschiedenen Miniaturen auf unterschiedliche Weise verwendet wird und Zusammenhänge auf der Ebene des Tonmaterials stiftet (vgl. das Notenbeispiel). Die Klaviersammlung ist allerdings kein streng zwölftöniges Werk, denn Boulez’ Umgang mit der von Leibowitz vermittelten Kompositionstechnik ist äußerst frei. So wird die Reihe nicht nur horizontal und vertikal verwendet, sondern auch permutiert, in einzelne Segmente aufgespalten und fragmentiert. Außerdem gibt es zahlreiche Tonwiederholungen, unterschiedliche Formen der Ostinato-Bildung sowie Cluster und Glissandi.
Pierre Boulez: Notation 1, T. 1–4Einflüsse und Spuren
Für den jungen Boulez war die Arbeit an seinem musikalischen Gesellenstück zugleich eine Art kompositorische Bestandsaufnahme. So spiegeln die Douze Notations nicht nur seine kreative Aneignung der Zwölftontechnik und der rhythmischen Verfahren Messiaens, sondern auch seine Beschäftigung mit Werken von Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, André Jolivet, Claude Debussy, Béla Bartók und Anton Webern sowie mit außereuropäischer Musik. Während die horizontale Exposition der Zwölftonreihe in den Anfangstakten von Notation 1 (vgl. die Abbildung) beispielsweise an den Walzer aus Schönbergs Klavierstücken op. 23 denken lässt, erinnert die Vortragsbezeichnung „fantasque et modéré“ an Debussy. Die asymmetrische Rhythmik des Stückes hingegen knüpft eindeutig an Messiaens Konzept einer „frei-metrischen Musik“ („musique amesurée“) an. Denn als Ordnungsrahmen dient hier nicht mehr ein regelmäßiges Metrum, sondern ein kurzer Grundwert (die Sechzehntelnote) und seine Additionen. Fast jeder Takt hat eine andere Länge (6 bis 21 Sechzehntel) und die Taktstriche zeigen keine metrischen Schwerpunkte mehr an, sondern sind lediglich Gliederungs- und Orientierungsbehelf. Schließlich verweist die Knappheit des Ausdrucks und die minutiöse Gestaltung der einzelnen Figuren auf Boulez’ Beschäftigung mit der Musik der Wiener Schule, seine damalige Begeisterung für die Klavierwerke Schönbergs und seine Entdeckung der komprimierten Musik Anton Weberns.
Trotz dieser vielfältigen Anklänge spricht der junge Komponist in den Douze Notations bereits mit eigener Stimme. Denn die herangezogenen Modelle werden nicht direkt übernommen, sondern transformiert und amalgamiert. So treten charakteristische Merkmale des Boulez’schen Komponierens in der musikalischen Miniaturensammlung bereits deutlich zutage.
Lektüreempfehlungen
Susanne Gärtner, Werkstatt-Spuren: Die Sonatine von Pierre Boulez. Eine Studie zu Lehrzeit und Frühwerk, Bern u.a.: Peter Lang, 2008. Dort das Kapitel zu „Pierre Boulez’ Lehrzeit“, S. 17–123.
Robert Nemcek, Untersuchungen zum frühen Klavierschaffen von Pierre Boulez, Kassel: Gustav Bosse, 1998.
Anmerkungen
[1] Vgl. Peter Hill und Nigel Simeone, Messiaen, New Haven: Yale University Press, 2005, S. 138.
[2] So Messiaen in einem Brief an seinen Studenten Jean-Louis Martinet (22. September 1943), zit. nach: Peter Hill und Nigel Simeone, Messiaen, aus dem Englischen von Birgit Irgang, Mainz: Schott, 2007, S. 142.
[3] Ebd.
[4] Zit. nach Susanne Gärtner, Werkstatt-Spuren: Die Sonatine von Pierre Boulez. Eine Studie zu Lehrzeit und Frühwerk, Bern u.a.: Peter Lang, 2008, S. 49 (Übersetzung TB).
[5] Auf dem Programm standen außerdem Leibowitz‘ Kammerkonzert op. 10 sowie Schönbergs Herzgewächse, an deren Aufführung Boulez als Harmonium-Spieler beteiligt war.
Ein musikalisches Gesellenstück
von Tobias Bleek
Musikalische Metamorphosen
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