Pierre Boulez (Mitte) zeigt Igor Strawinsky (links) das Manuskript seiner3. Klaviersonate; rechts neben Boulez steht Robert Craft, Baden-Baden, Oktober 1957 (Paul Sacher Stiftung Basel)Ausgangspunkt
„Meine Freiheit besteht darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe“, erklärt Igor Strawinsky in seiner Musikalischen Poetik: „Ich gehe noch weiter: meine Freiheit wird umso größer und umfassender sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. […] Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“
In seinen Douze Notations für Klavier verfolgte Pierre Boulez ein ähnliches Programm. In dem 1945 entstandenen Werk erkundete der französische Komponist das Verhältnis von Ordnung und Freiheit in einem begrenzten Rahmen. Bei der Absteckung des Spielfelds leitete den 20-Jährigen dabei die Zahl 12. So setzt sich die Klaviersammlung aus 12 ausdrucksgeladenen Miniaturen zusammen, die jeweils 12 Takte umfassen. Jede dieser Miniaturen hat einen ausgeprägten eigenen Charakter, wobei nicht nur zwischen den einzelnen Notations, sondern manchmal auch innerhalb ein und desselben Stücks scharfe Kontraste bestehen. Das verbindende Element ist eine 12-Tonreihe, die in den verschiedenen Miniaturen auf unterschiedliche Weise verwendet wird und Zusammenhänge auf der Ebene des Tonmaterials stiftet. In Boulez‘ ebenso freiem wie originellem Umgang mit dieser Reihe und den Prinzipien der Zwölftonkomposition zeigen sich dabei die produktiven Kräfte, die aus einer radikalen Selbstbegrenzung erwachsen können.
Kurzfilm zum ProjektZum Education-Projekt
Das dritte Modul des Notations-Projekts, das das Klavier-Festival Ruhr in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste veranstaltete, führte Oberstufenschülerinnen, Musikstudenten und Mitglieder des Folkwang Tanzstudios zusammen. Unter der Leitung der Tänzerin und Choreographin Henrietta Horn und des Komponisten Vassos Nicolaou haben die Teilnehmer in spartenübergreifenden Teams Skizzen und kurze Stücke erarbeitet, die sich wie Boulez‘ Miniaturen in einem eng umgrenzten Spielfeld bewegen. Ziel war es dabei, Tänzer und Musiker miteinander ins Gespräch zu bringen, die Lust am Experimentieren und Erkunden von Neuland zu wecken und unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit zu erproben.
Vassos Nicolaou bei der Arbeit mit Studierenden und jungen Tänzern(Foto: Ursula Kaufmann)Spiel mit Regeln und Begrenzungen
Das Projekt begann im März 2012 mit einem gemeinsamen Einführungswochenende. Im Lauf des ersten Workshoptages stellte die Pianistin Tamara Stefanovich den Teilnehmern in mehreren Präsentationen Boulez‘ Klaviersammlung sowie ausgewählte Klavierwerke von György Ligeti und George Benjamin vor. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie Komponisten mit Hilfe von selbst gesetzten Regeln ein musikalisches Spielfeld definieren und sich aufgrund einer solchen Beschränkung des Aktionsrahmens zugleich neue Handlungsmöglichkeiten schaffen.
Darüber hinaus begannen die Teilnehmer im Rahmen des Einführungswochenendes mit einer praktischen Erkundung des Themenfeld. Auf der Basis von vorher gemeinsam festgelegten einfachen Regeln wie „Beschränke dich auf eine Bewegung und entwickle diese“ oder „Benutze zur Klangerzeugung lediglich deinen Körper“ entwickelten Tänzer und Musiker in Kleingruppen erste gemeinsame Skizzen. Dabei wurde deutlich, dass Regeln ermöglichen, ein begrenztes Aktionsfeld konsequent zu durchdenken und dabei auch überraschende Interpretationsmöglichkeiten zu entdecken. So berichtet Henrietta Horn: „Es ist erstaunlich, wie wenig emotionalen und technischen Ballast die Teilnehmer mit in ihre Kompositionen nehmen, wenn die Regeln sehr formal und eng sind. Durch die Konzentration auf Raum und Zeit und einen sehr eingeschränkten Bewegungsspielraum, entsteht auf einmal eine neue Sprache, die viele Wege/Klänge zulässt...“
Zusammenspiel von Klängen und Bewegungsformen(Foto: Ursula Kaufmann)Schöpferische Zusammenarbeit zwischen Musikern und Tänzern
In den gemeinsamen Warmups und Gruppenimprovisationen wurde zugleich ein Prozess der Begegnung und des Austausches in Gang gesetzt, der für alle Beteiligten neu war. Dieser mündete am Ende eines weiteren Workshop-Tages Anfang Juni in der Bildung von Teams aus Musikern und Tänzern, die im weiteren Projektverlauf gemeinsam kurze Stücke entwickelten. „Diese enge und gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Musikern und Tänzern ist für mich der spannendste Aspekt des Projekts“, erklärt Vassos Nicolaou: „Es ist eine sehr interessante Form der schöpferischen Tätigkeit, weil aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Kunstformen neue Ideen und Motivationen erwachsen. Deshalb ist es bedauerlich, dass solche spartenübergreifenden Workshops, nur selten angeboten werden.“
Ergänzend zu den gemeinsamen Workshops erhielten die beteiligten Musiker im Lauf des Projekts auch individuellen Kompositionsunterricht bei Vassos Nicolaou. Ziel war es dabei, die über unterschiedliche Vorerfahrungen verfügenden Teilnehmer bei der Umsetzung ihrer musikalischen Ideen zu unterstützen und sie in die Lage zu versetzen, Mittel der Live-Elektronik in die Kompositionen einzubeziehen.
Abschlusspräsentation der Werkwoche auf PACT Zollverein, Essen(Foto: Ursula Kaufmann)Intensiv-Woche und Abschlussveranstaltung
In einer siebentägigen Workshop-Phase wurden die verschiedenen Fäden dann zusammengeführt. Nach dem gemeinsamen morgendlichen Warmup trafen sich die verschiedenen Teams, um die begonnen Experimente, Skizzen und Stücke auszuarbeiten und im Dialog mit Henrietta Horn und Vassos Nicolaou weiterzuentwickeln.
Am 27. Juni 2012 wurden die Kompositionen der Projektteilnehmer für Tänzer, Instrumente und Live-Elektronik im Choreographischen Zentrum PACT Zollverein uraufgeführt. Zu Beginn der Veranstaltung spielte Tamara Stefanovich mit den Douze Notations jenes Werk, das den Ausgangspunkt der Projektarbeit gebildet hatte.
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